Benno

Ich war einmal aus Versehen bergsteigen.

Beinahe katatonisch saß ich in der Straßenbahn nach Fushimi, in der Hoffnung, den Touristen am „Schrein der tausend Tore“ zuvorzukommen. Wie so oft in den letzten drei Wochen hatte ich kaum geschlafen und mich in der Dämmerung aus dem Sechzehner-Schlafsaal geschlichen. Mein Plan war, mir den Fushimi Inari-Taisha anzuschauen und danach in dessen Umgebung zu frühstücken, weshalb ich die Händler auf der Hauptstraße ignorierte, die mir unter Entschuldigungen ihre Bento-Sets feilboten. Tatsächlich herrschte am Tempel noch angenehme Ruhe; um seine Traufbalken hing der Morgennebel. In seinem Rücken sah ich die berühmten, orangefarbenen Tore, die einen Steinweg umschlossen, den Hügel hinauf. Ich ging los, womöglich gab es noch einen Nebenschrein. Etwas seltsam, dass nach vielleicht hundert Toren ein Getränkeautomat am Wegrand stand, in dem ein Mineralwasser teure 300 Yen kostete. Ich bemerkte, dass ich meine Wasserflasche im Hotel vergessen hatte, aber ich würde gleich unten zum Frühstück etwas trinken.

Ich ging und ging, schon fast eine Stunde durch die immergleichen Tore. Da würde ja jetzt noch was kommen. Ah – da. Eine Lichtung, eine Art Hügelvorsprung, von dem man auf Kyoto schauen konnte, über dessen münchnerischem Stadtbild die Sonne aufging. Gut, dachte ich.

Dann sah ich das Schild.

現在地  – You are here. Ein roter Punkt.

Ich war erst ein Drittel des Weges gegangen.

Meine Zunge klemmte trocken in meiner Mundhöhle, die Schlaflosigkeit stach in meine Venen. Ich hatte Hunger. Jede Vernunft hätte gesagt: Geh zurück.

Geh rauf, sagte mein Großvater.

Obwohl ich seinen Namen als zweiten Vorname trage, kenne ich meinen Großvater nicht. Er starb ein Jahr vor meiner Geburt an einem Krebsleiden. Ich kenne seine Stimme nicht, und nur ein einziges sepiafarbenes Bild, das eher nach 1890 aussieht als nach 1990. Weste, Wanderstock, Hut. Mein Großvater war Postmann im oberbayerischen Hausham. Er war in der SPD. Aber vor allem, das weiß ich, vor allem war er Bergsteiger. Und jetzt sagte er, oder wenn Ihnen das lieber ist, telegraphierte er mir: Wer anfängt, einen Berg zu besteigen, der muss auch bis zum Gipfelkreuz.

Ich bin kein Bergsteiger. Endlose Jahre lang wurde ich die schwierigsten Routen hinaufgescheucht, im strömenden Regen, bis zum Erbrechen, lernte als Achtjähriger die Nähe von Leben und Tod. Du lebst, wenn du dich gscheit am Seil festhältst, du stirbst, wenn du von der Felskante rutschst.

Ich wiederhole: Ich gehe nie bergsteigen. Ich war sehr müde. Ich hatte zwei Drittel Berg vor mir und ein Drittel hinter mir.

Natürlich ging ich rauf.

Ich verbot mir die Automaten, deren Inhalt – ich schwöre es – teurer wurde, je höher ich kam. Wie in Trance trieb es mich durch den Schlauch der Torbögen, die immer schiefer und immer roter mein Blickfeld einsperrten, ein schräger Tunnel für einen schrägen Jungen, seit drei Wochen allein auf fremden Gleisen.

Als ich nach Stunden oben ankam, hörte ich etwas, das ich seit drei Wochen nicht mehr gehört hatte: Deutsch. Plötzlich war ich umgeben von Deutschen. Ein Gipfelkreuz gab es nicht, keine Automaten mehr. Die Aussicht war unten beim Wegdrittel besser gewesen, hier versperrten hohe Bäume die Sicht. Warum hätte jemand hierherkommen sollen?

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Thomas Empl

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